LESEPROBE DER MENSCHENLESER
PROLOG
Er war wie Everett Taylor Cheever, der seine Bücher im Kopf schrieb. Manche von Paul Sempers Büchern wurden zwar veröffentlicht, doch die interessanteren, die viel relevanteren, die behielt er für sich. Die meisten seiner ungeschriebenen Bücher endeten mit einem Fragezeichen, und keine einzige seiner Geschichten hatte eine Moral.
Warum ihn das Kriminelle interessiere, fragten ihn die Leute häufig. Die wenigen, die er kannte. Und von den wenigen musste man die Kollegen abziehen, denn die arbeiteten ja selbst in der Branche, in der man sich so sehr für Kriminelle interessierte, dass man mit ihnen mehr Zeit als mit der eigenen Familie oder mit Freunden verbrachte, so man welche hatte, oder eben mit sich allein. Interessant wurde es für Semper dann, wenn die Kriminellen, die er bezüglich ihrer Schuldfähigkeit zu begutachten hatte, selbst zu fragen begannen, warum er das machte. Und wenn er einer Laune war, die besonders gut schien - denn das Gute trennte er nie vom Bösen und so war auch seine Laune immer gleichgut - dann erzählte er ihnen davon.
Wie er als Vierzehnjähriger die Sommerferien bei seinem Onkel in Westfalen verbrachte. Der Onkel war der Amtsmann von Lüdenscheid. Und wie sich genau in jenem Sommer ein Mord ereignete, der über die Grenzen des Sauerlandes hinaus für Aufregung sorgte. Die ermordete Frau war eine stadtbekannte Trinkerin gewesen und hatte ihren Ruf gehabt. Als wäre es dann geradezu verständlich, einem Mörder zum Opfer zu fallen, dachte sich der Junge damals, und dass dann in der Mulackritze ja keiner mehr am Leben wäre, dachte er weiter und behielt es für sich, während er für den Onkel das Protokoll niederschrieb. Der hatte mit ihm angegeben, mit seinem Neffen aus dem Moloch Berlin, und plötzlich hatte der Moloch mitten im Sauerland gelegen.
Der Mörder wurde festgenommen, da waren die Ferien noch nicht mal rum. Der eigene Sohn hatte die Frau erschlagen, weil er es leid war, ständig auf ihrer Kotze auszurutschen und stinkend und hungrig zur Schule zu gehen. Er war fünfzehn und im Ort so bekannt wie seine Mutter. Auch er hatte bereits seinen Ruf, den eines Krakeelers nämlich.
Schon drehte sich der Wind, und der Junge wurde undankbarer Sohn geschimpft, der einen Kopf kürzer gehörte, weil er seine eigene Mutter umgebracht hatte.
Und weil der junge Semper schon damals begriff, dass ein Menschenleben aus Arbeit bestand, beschloss er, dann wenigstens eine zu tun, bei der er diesen Widersprüchlichkeiten nachspüren und die ihm endlos scheinende Zeit eines Arbeitslebens zu einem Abenteuer machen konnte.
Die Hände hinter dem Kopf verschränkt, starrte Semper an die Decke.
Draußen in der Mulackstraße spielte sich ein Sonntag ab, Menschen spazierten aus dem grauen Viertel hinüber zum Alexanderplatz. Zwei Wochen zuvor hatten Ulbricht nebst Gattin, Mielke, Mittag und Honecker dort den Fernsehturm eröffnet.
Herbstwind rüttelte an den beiden Fenstern zum Hof. Als das Rütteln nachließ, tönte ein Pfeifen aus den Ritzen.
Er starrte an die Decke und las dort die Fragen, die ihn nicht losließen, und die er doch niemandem stellen konnte als sich selbst. Er hatte es versucht.
Krauskopf war jemand, mit dem er darüber reden konnte. Doch Krauskopf war Leutnant bei der Kripo in Eberswalde. Semper hätte diesen hellen Kopf gern öfter um sich gehabt, schon, um nicht permanent mit seinen Überlegungen allein zu sein im Elfenbeinturm Charité.
Was waren die letzten Gedanken der ermordeten Jungen gewesen?
Das war eine von Sempers Fragen, die ihn nicht losließen und mit denen er an diesem Sonntag das erste Kapitel eines weiteren ungeschriebenen Buches begann.