LESEPROBE KÄLTETOD

PROLOG und KAPITEL 1

 

PROLOG

 

Frankreich – Tulle, Freitag, 9. Juni 1944

Das Mädchen lief mit durchgestreckten Beinen, wie es

nur ein Kind tun kann. Ein Kind, das spielte, das den

Clown mimte vor den anderen Kindern. Gelächter in der

Straße, die wie die anderen Straßen und der Markt abgeriegelt

war wie für ein Volksfest. Lautsprecher hingen

wie Kröpfe an den Straßenlaternen. Musik und das sich

überschlagende Lachen der Dolmetscherin, die französische

Worte ins Deutsche übertrug und wieder zurück,

mischten sich unter den Lärm.

Das Mädchen lief in seinem skurrilen Aufzug – es trug

noch den weißen Schlafanzug aus Baumwolle mit Tüll,

kein Wunder bei dem Vater, der sein Püppchen immer

einkleidete und damit sein eigener bester Kunde war –

die Straße entlang mit einem Ziel, das nur es selbst zu

kennen schien. Es wandte nicht den Blick, weder nach

rechts noch nach links, obwohl es auf den Bürgersteigen

Dinge zu sehen gab, die das Mädchen noch nie gesehen

hatte. An Laternenpfählen, Balkongittern, Bäumen und

Telefonmasten hingen dicke Seile mit Schlingen. Darunter

standen Hocker und Stühle, wie sie auch aus ihrem Haus

geholt worden waren. Neben jedem Hocker, neben jedem

Stuhl stand ein Bewacher.

Das Kind lief immer schneller, die Knie durchgedrückt,

als ragten Stöcke aus den Kappen seiner knöchelhohen

Schnürschuhe. Die dünnen Arme mit den kleinen geballten

Fäusten bewegten sich mechanisch im Takt zu den

Schritten und waren Antrieb, wie es Schaufelräder an den

großen Mississippi-Dampfern waren. Von denen hörte

das Mädchen jeden Abend, wenn der Vater von Huck

Finn erzählte. Der wollte mit seinem Freund Jim auf dem

Floß bis zur Mündung des Ohio schwimmen und von

dort mit einem Dampfer den Fluss hinauf. Doch ihr Floß

wurde von einem Dampfer gerammt und zerstört, bevor

sie die Mündung erreichten.

Das Mädchen lief schneller. Jetzt konnte es seinen

Vater sehen. Es stimmte nicht, dass er nicht wiederkehren

würde. Er war da. Stand leibhaftig vor ihr. Hinter ihm

stand ein Mann in einem Anzug, der ein Muster hatte von

Erde und Bäumen. Der Bewacher des Stuhles, auf den

der Vater jetzt stieg. Die Hände des Vaters, mit denen er

immer dirigierte, wenn das Mädchen sang: »Sur le pont

d’Avignon, on y danse, on y danse, sur le pont d’Avignon,

on y danse tout en rond …«, und dazu auf dem

Akkordeon spielte, waren hinter dem Rücken des Vaters

zusammengebunden. Der Mann im Anzug bemerkte das

Kind nicht, das flüsternd seinen Vater rief. Dessen Blick

endete irgendwo über dem Dach der »Tivoli«-Bar, vor

der eine Menschenmenge für Jahrmarktstimmung sorgte.

Der Bewacher legte dem Vater die Schlinge um den Hals.

Dann stieß er den Stuhl zur Seite. Aus einem Grammofon

klangen Schlagermelodien. Der Blick des Vaters war

nun blind wie eine gesprungene Fensterscheibe, durch

die es nichts mehr zu sehen gab.

 

KAPITEL 1

 

Es ging langsam. Er roch das Holz. So viel Holz in diesem

Raum, das war ihm nie so bewusst gewesen. Der

Sommer begann gerade. Es mussten die Sonnenstrahlen

sein, die durch die Dachfenster fielen … Sie heizten es

auf, das Holz, das jetzt duftete. Es roch nach Holz in seinem

Haus. Wieso hatte er das nie wahrgenommen? Das

Holz … Es würde länger leben als er. Die Lilien neben

der Eingangstür … Sie wären erst dann verblüht, wenn

er bereits eine Woche unter der Erde lag. In seinem eigenen

Sarg. Am Ende seines Lebens und am Anfang dieser

unvorstellbaren schwarzen Leere. Noch ein, zwei Minuten

würde sein Gehirn durchhalten und Sauerstoff aus

dem Blut heraussaugen. Der Strick aus Plastik fräste sich

sekündlich tiefer in seine Haut. Er spürte seine Hände

nicht mehr. Seine Schultern waren schwer wie Kugellager.

Es ging zu langsam. Viel zu langsam. Die Zeit, die ihm

blieb, würde er nicht nutzen können. Sie war so viel wert

wie ein hingeworfener Brocken Rohfleisch vor einen

Verhungernden.

Das Wissen um die Zeit, in der er sein Leben

nicht würde retten können, versetzte ihn in Panik. Nie

im Leben hatte er Zeit gehabt. Und jetzt zu viel davon.

Und doch wollte er nicht, dass sie verging. Denn mit ihr

ging sein Leben auf dieser Erde zu Ende. Das war nicht

die Probe. Das war der Auftritt. Kein Genickbruch am

Galgen, sondern langsames Ersticken, an seinem eigenen

Dachbalken hängend. Krämpfe setzten ein. Das Plastikseil

schnitt tiefer. Speichel lief aus seinem Mund. Ein

warmes Rinnsal Blut floss aus seinem Ohr in den Kragen

seines Hemdes. Seine Tränen mischten sich mit dem

Rotz, der aus seiner Nase lief. Die letzten Gedanken eines

Menschen, der wusste, dass er starb. Er hatte sie nun, da

er kein Wort mehr sagen konnte, obwohl auf seine brechenden

Augen eine Kamera gerichtet war.